D. Boris, T. Gerstenlauer, A. Jenss, K. Schank, J. Schulten (Hg.):
Sachbuch. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009, 339 Seiten, € 29,90
Einiges ist in der letzten Zeit zur Linken und zu sozialen Bewegungen in Lateinamerika erschienen. Die Veränderungen der Sozialstruktur, mit denen politische Linksverschiebungen und soziale Mobilisierungen verbunden sind, blieben jedoch eine Leerstelle. Diese wird nun durch einen Überblicksband, der von einem Kreis Marburger SozialwissenschaftlerInnen um Dieter Boris zusammengestellt ist, gefüllt.
Der Bogen ist weit gespannt von Veränderungen der herrschenden Klasse in Argentinien über die Technokratie in Chile, die neue Armut früherer Mittelschichtsangehöriger bis hin zur Transformation der städtischen Arbeiterschaft und Prozessen der Informalisierung. Aber auch die Wirkungen der Veränderungen der Klassenstrukturen auf Geschlechterverhältnisse oder transnationale Migration werden diskutiert. Die meisten Beiträge sind von lateinamerikanischen AutorInnen verfasst. Insofern geben sie nicht nur einen Überblick über zentrale sozialstrukturelle Veränderungen, sondern auch Einblick in die lateinamerikanische Diskussion. Hierbei ist geographisch eine gewisse Schwerpunktbildung bei Argentinien und Mexiko festzustellen, während Brasilien kaum vorkommt. Zentrale Entwicklungstrends der Veränderungen der Sozialstrukturen sind Fragmentierung, verschärfte Konkurrenzverhältnisse und Abbau von Schutzmechanismen.
Sehr eindrücklich schildern Gabriel Kessler und Maria Mercedes di Virgilio die Ausdifferenzierung und Verarmung wesentlicher Sektoren der argentinischen Mittelschichten und die unterschiedlichen Reaktionsmuster auf den sozialen und materiellen Abstieg. Francisco Zapata analysiert die Wirkung verschiedener neoliberaler Politiken auf die Zusammensetzung und Stellung der städtischen Arbeiterschaft sowie die unterschiedlichen gewerkschaftlichen Reaktionsmuster auf Privatisierung, Informalisierung und vielfach steigende offene Arbeitslosigkeit. Insgesamt ist das Bild der Strukturveränderungen in der Tendenz durch soziale Abwärtsmobilität gekennzeichnet.
Im abschließenden Resümee führen die HerausgeberInnen die Wahl von Mitte-Links-Regierungen nicht zuletzt auf ein verändertes Wahlverhalten der Mittelschichten zurück. Als ein weiteres wichtiges politisches Phänomen heben sie die verstärkte Sichtbarkeit von indigenen Bewegungen hervor. Deren Protestanliegen weisen über die eigene indigene Gruppe hinaus.
Der Band gibt einen sehr gelungenen und differenzierten Überblick über sozialstrukturelle Veränderungen und einige ihrer politischen Folgen in Lateinamerika.